Mittwoch, 31. Dezember 2008

Die Heilerin

Ein altes Holzhaus steht am Ortsrand. Es hat schon bessere Tage gesehen, jetzt erscheint es von außen besehen nur noch baufällig zu sein. Ein Architekt würde sagen, abreißen und ein neues Haus bauen. Der Liebhaber hingegen würde so manches interessante an diesem Häuschen finden. Die eindrucksvolle verwitterte Schnitzerei über der Eingangstür. Die aufwendige Zimmermannsarbeit eindeutig ein Zeichen von Handarbeit.

Die meisten Spaziergänger aber gehen achtlos vorbei und beachten das windschiefe Häuschen nicht. Viel schlimmer sind die dreisten Farbschmierereien und die obszönen Texte. Das hat das Holzhäuschen und seine einstige Bewohnerin sicher nicht verdient.

Auf dem kleinen Friedhof des Ortes liegt ein Grab einsam an einer Mauer. Fragt man die alten Leute hier, wieso dieses Grab so allein abseits liegt, dann schütteln sie den Kopf.
„Das wissen sie nicht? Da liegen die Armen, die kein Geld haben für ihre Beerdigung. In unserem Ort gab es nur eine, unser Klärchen.“

Neugierig geht man zu dem verwitterten Holzkreuz und liest dort: Klara Steiner.
Jetzt hat sie also schon einen Namen, die alte Dame aus dem windschiefen Holzhäuschen.

Wie aber lebte sie? Was hat sie in ihrer Lebenszeit vollbracht?
Auf den Spuren der Vergangenheit zu wandeln kann oft sehr interessant werden. Ein Mensch der scheinbar längst in Vergessenheit geraten ist und von dem nicht eine Seite beschrieben steht, wird mühsam wie ein Puzzle zusammengetragen. So sammeln sich hier ein kleines Teilchen und dort eine Episode zu einer näheren Information.

Ein alter Herr auf einer Bank am Dorfteich weiß mehr. Er füttert gerade die Enten, wirft ihnen trockene Brotkrummen zu. Mürrisch blickt er drein.
„Wieso wollen Sie was über Klärchen wissen? Wer sind Sie überhaupt?“
Der Frager kommt nicht zur Antwort, in den grauen alten Hirnzellen beginnt die Verjüngungskur und noch einmal reist der Geist in jene längst vergangene Zeit.

„Das ist eine lange traurige Geschichte. Klara war ein gescheites Mädchen, nur hatte ihre Mutter schon kein Geld. Klara war eine schöne Frau und so fand sie trotz der Armut einen Mann aus gutem Haus. Es war der Erstgeborene eines der reichten Bauern hier. Leider war der Bauer gegen die Verbindung, genutzt hat es nichts. Wo die Liebe hinfällt, Klara hat ihren Kurt geheiratet. Sie können mir glauben, es war ein stolzes Paar. Der Alte hat zwar seinen Sohn enterbt, aber der Kurt hat auch so seinen Weg gemacht. Das wäre sicher auch ein gutes Leben geworden. Der zweite Weltkrieg hat alles kaputtgemacht. Kurt fiel bei Stalingrad und der Alte hat Klara dafür die Schuld gegeben. Der Herr Pfarrer hatte nichts besseres zu tun, als vom Sündenfall und der Gerechtigkeit zu reden. Blödes Zeug, was konnte Klara für den Tod ihres Mannes. Nichts! Die Leute hier am Ort haben über sie getratscht und sie verflucht. Die Hexe haust im Holzhaus. Das Verrückte ist, wenn die Ärzte nicht helfen konnten sind sie zu Klara geschlichen, heimlich und nur in der Nacht. Das waren Zeiten, was?“

Der Frager schaut auf den Weiher und meint.
„Das ist aber sicher nicht die ganze Geschichte?“

Der alte Mann bricht Brot und wirft es den Enten zu.
„Nein! Es geht noch weiter. Klara hat in ihrer Familie Frauen gehabt, die der Hexerei bezichtigt und deshalb verbrannt wurden. Zwei ihrer weiblichen Verwandten landeten im sogenannten Schuldenturm. Klara verstand sich auf die Heilkunst wie keine zweite. Sie kannte alle Kräuter wusste, wo man sie fand und wie sie zu verarbeiten waren. Die Salben halfen immer, ihre Tees waren eine Wohltat und ihre Hände waren warm.“

Der Frager schaut den alten Mann verwundert an.
„Warm? Was meinen Sie mit warm?“

„Na, die hat ihre Hand aufgelegt und damit geholfen, hat massiert, eingerenkt und solche Sachen. Manchmal habe ich ihr heimlich was zu essen gebracht. Die Frau war arm wie eine Kirchenmaus. Meine verstorbene Frau hätte es nie erfahren dürfen, die hätte das Klärchen am liebsten gesteinigt. Verstehen Sie warum Menschen so sein können? Ich ehrlich gesagt nicht, vielleicht hängt es am Alter. Wissen Sie, die hatte einen selbstgebrannten Kräuterschnaps der bewirkte wahre Wunder.“

Der Frager lächelt und meint.
„Deshalb haben Sie die Frau besucht, wegen dem Schnaps.“

Der alte Mann winkt ab.
„Nein, es gab immer nur ein Gläschen Kräuterschnaps, nie auch nur einen Tropfen mehr. Warum interessiert Sie diese Geschichte überhaupt? Kein Mensch interessiert sich mehr für Klärchen, die liegt seit fast zwanzig Jahren unter der Erde.“
„Dann ist Sie aber früh gestorben!“
„Ja, die arme Frau bekam eine Lungenentzündung und ist daran gestorben.“
„Das ist eine traurige Geschichte, ihr ganzes Wissen ist wohl verloren für diese Welt.“
Der alte Mann nickt zustimmend.
„Ja! Nur was geht es Sie an?“
„Ich habe erst gestern bei der Durchsicht der Unterlagen meiner verstorbenen Eltern erfahren wer ich wirklich bin.“
Der alte Mann klatscht plötzlich in beide Hände.
„Dann hatte ich also doch Recht! Klärchen war nach Kurts letztem Heimaturlaub schwanger. Kurt ist drei Monate später in Stalingrad gefallen. Ich habe es damals geahnt, Klärchen war nicht nur traurig, sie war total durch den Wind. Sie hat wohl das Kind heimlich zur Welt gebracht und dann um es vor den Leuten zu schützen in andere Hände gegeben.“

Der Frager nickt traurig.
„Genau so war es, Sie fürchtete um das Leben ihres Kindes. Ich habe nicht gewusst, dass ich ein Pflegekind war. Der Tod hat die Wahrheit an das Licht des Tages gebracht.“
Der alte Mann schaut den Frager lange an.
„Jetzt erkenne ich dich, du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich bin sicher deine Mutter hat dir etwas hinterlassen. Hast du den Schlüssel zum Haus?“

Der Mann nickt stumm und zieht ihn hervor.

„Ich wette du heißt Kurt.“
Kurt und Tränen stehen in seinen Augen.
„Scheiße! Ich bin dein Onkel, ich habe damals statt meines Bruders Kurt unseren Hof geerbt.“
Der alte Mann beginnt zu heulen.

„Keine Angst mein Lieber, ich habe viel gut zu machen. Jetzt weiß ich wenigstens für wen ich das Erbe erhalten habe. Gehe zum Holzhaus und schaue im Keller nach, da findest du die Antworten auf deine Fragen. Den Rest werde ich Dir bei einem Essen in meinem Haus erzählen. Es ist der große Hof direkt auf der anderen Seite.“

Kurt nickt und geht zu dem alten Holzhaus. Er sperrt die Tür auf und ist erstaunt wie gut alles noch funktioniert. Das Haus sieht im Innern gut erhalten aus, hier hat wohl immer wieder jemand nach dem Rechten geschaut.
Er steigt die steile Kellertreppe hinab und findet sich in einem großen Raum wieder. Jetzt erst fällt ihm auf, das Licht brennt, also gibt es Strom. Vor ihm steht ein Küchentisch und an der Wand steht ein Schrank. Auf dem Tisch liegt ein Brief.

Kurt nimmt ihn mit zittriger Hand auf und liest den Text.
- Für meinen Sohn Kurt –

Er öffnet den Umschlag und liest immer wieder die Zeilen, irgendwann legt er den Brief auf den Tisch und öffnet den Schrank.

Lange blickt er auf die Hefte und Bücher, nimmt zaghaft welche in die Hand. Mühsam versucht er die Schrift zu entziffern und dann scheint es als sei eine Erscheinung im Raum. Das Licht wird heller, eine schemenhaftes Wesen huscht durch den Raum, eine sanfte Frauenstimme flüstert zärtlich.

„Habe keine Angst Kurt, nimm es an, das Vermächtnis der Heilerin. Ich kann dir nicht viel geben, was ich dir aber gebe ist unbezahlbar. Es ist das wertvollste was ein Mensch geben kann.“

In dieser Nacht fand die Heilerin endlich ihre verdiente Ruhe und ein neuer Heiler ward geboren.



© Bernard Bonvivant, Autor des Romans das Chaos

1 Kommentar:

  1. Hallo Bernard,
    ich habe Deine Geschichte gelesen und ich bin begeistert von Dir. Es ist wie im wahren Leben, man wird oft verkannt, weil viele es nicht verstehen können und die es verstehen, wollen es nicht wahrhaben und wenn man Ihnen geholfen hat,
    verleugnen sie die Person und erzählen niemandem davon. Denn es würde ein schlechtes Bild von ihnen abgeben. Selbst der Arzt stirbt lieber als das er sich helfen läßt.
    Es ist wie in dem Buch mit dem Eremiten,als sie nach ihm gefragt haben und durch die Tür gegangen sind, mußten sie sich wieder im Tal anstellen. Denn sie hatten den Eremiten nicht erkannt. Viele Grüße Wilhelm Elges

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